Pflege-Experte Werner Schell im Interview
Bei aller Liebe
04.02.2008 Anke Henrich
Pflege-Experte Werner Schell über die begrenzten Möglichkeiten, erkrankte Angehörige zu pflegen, über kaufmännisch rechnende Hausärzte und staatliche Hilfen.
WirtschaftsWoche: Herr Schell, woran können wir merken, dass Eltern oder Lebensgefährten womöglich zum Pflegefall werden?
Achten Sie auf kleine Veränderungen, die scheinbar harmlos daherkommen, wie wachsende Vergesslichkeit. Es ist selten ein plötzliches Ereignis wie ein Schlaganfall, sondern oft sind es Krankheiten wie Demenz, die das Zusammenleben auf Dauer absehbar erschweren werden.
Oft will man es einfach nicht wahrhaben: Die eigenen Eltern, jahrzehntelang für ihre Kinder wie Felsen in der Brandung, sollen immer schwächer werden?
Vergegenwärtigen Sie sich in guten Tagen, dass die Pflege unserer Angehörigen auf uns alle zukommt. So ertragen Sie es später wirklich leichter. Und akzeptieren Sie: Am Ende steht der Tod, immer.
Viele Angehörige finden es selbstverständlich, ihre Eltern oder ihren Partner jahrelang hingebungsvoll zu pflegen. Trotzdem endet die Pflegephase auf beiden Seiten oft in Verzweiflung. Woran liegt das?
Die Angehörigen sind überfordert, das ist völlig normal. Sie übernehmen intimste krankenpflegerische Aufgaben, für die sie nie ausgebildet wurden; schuften
womöglich für jemanden, der wegen seiner Krankheit ihren Einsatz nicht einmal zu schätzen weiß. Wenn Sie das ohne Familienhilfe oder Pflegedienst stemmen wollen, machen Sie sich klar: Sie müssen 24 Stunden am Tag dienstbereit sein, Urlaub ist auf Jahre fast unmöglich. Irgendwann geht oft kein Weg am Heim vorbei.
Das können viele nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.
Die Alternative ist: Der Pflegende geht selbst vor die Hunde. Damit ist weder ihm noch dem Kranken gedient. Lehrsätze wie „Ambulant vor stationär“ sind Idealvorstellungen. Das muss jeder selbst mit sich ausmachen. Die meisten Angehörigen verfolgt der Gedanke an diese Entscheidung ein Leben lang. Was man dann gar nicht braucht, sind ahnungslose Außenstehende, die meinen, sie könnten über jemanden in dieser Gewissensnot auch noch richten. Marke „Die Ehefrau hat ihn abgeschoben“ – so ein Blödsinn!
Wie können Kinder psychisch am besten damit umgehen, dass sie die Mutter oder den Vater einem Heim anvertrauen?
Machen Sie sich klar: Nichts ist besser als regelmäßige Besuche. Denn als ständiger Begleiter im Pflegeheim sind Sie zugleich die beste Heimaufsicht. Wenn das Personal weiß, dass Sie regelmäßig kommen und ein wachsames Auge haben, nützt das Ihrem Angehörigen ganz gewiss.
Sind die Hausärzte eine Hilfe?
Wenn Sie einen alten, engagierten Familienarzt haben: Glückwunsch! Jüngere Ärzte, die betriebswirtschaftlicher denken, halten sich bei der Betreuung von Pflegefällen oft zurück: Die rechnet sich wegen der schlechten Honorierung oft nicht.
So alleingelassen, welche Warnzeichen gibt es für die eigene Überforderung?
Beispielsweise wenn der Rücken nicht mehr mitmacht, weil das Heben und Wenden eines Menschen ihn überfordert. Wenn der Angehörige selbst oft krank wird. Und vor allem wenn seine Reizschwelle sinkt, weil er erschöpft erkennen muss, dass es aus dem unendlichen Pflichtenkreis kein Entrinnen gibt. Nehmen Sie die Pflege eines Demenzkranken: Sie müssen Tag und Nacht in Habachtstellung sein, und im Gegenzug erkennt Sie der geliebte Mensch womöglich nicht einmal mehr. Da werden bei aller Liebe die Nerven dünner.
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Pflege Wo gibt es rechtzeitig Hilfe?
In der Regel werden Eltern oder Großeltern nicht von heute auf morgen pflegebedürftig. Angehörige sollten sich deshalb frühzeitig bei ihrer Krankenkasse informieren. Es gibt gute Bücher zum Thema Pflege durch Angehörige, und auch Organisationen wie die Caritas helfen weiter. Ganz wichtig: Führen Sie über einige Wochen ein Pflegetagebuch – das gibt es als Vordruck bei jeder Krankenkasse. Listen Sie wirklich alle Handreichungen und Hilfen minutiös auf, erfahrungsgemäß würde man ohne Vordruck die Hälfte vergessen. So haben Sie gute Argumente an der Hand, wenn es um die Feststellung einer Pflegestufe geht, für die die gesetzliche Pflegekasse Ihnen Zuschuss zahlt.
Und wenn sie den Antrag abschmettert?
Rückgrat zeigen: Viele Bescheide sind fehlerhaft, zudem nutzt die Pflegekasse grundsätzlich hauseigene Gutachter. Wer beispielsweise mithilfe seines in Anspruch genommenen Pflegedienstes Widerspruch einlegt, hat oft gute Karten. Meist reagieren die Kassen nicht sofort, aber doch spätestens wenn es um eine Klage vor dem Sozialgericht geht. Denn dort untersuchen unabhängige Gutachter den Fall.
Kann die Eingruppierung in eine hohe Pflegestufe auch Nachteile haben?
Oh ja: Je höher die ambulante Pflegestufe ist, in der der Kranke landet, umso mehr muss er später für die Pflege zahlen, wenn er in ein Heim zieht. Da geht es ans Eingemachte der Familie.
„Es sind die Töchter, die gefressen werden“ lautet der Titel eines guten Buches zum Thema. Wird sich in Zukunft daran etwas ändern?
In Zukunft wird sich alles ändern. Kinder und Eltern leben berufsbedingt oft Hunderte Kilometer auseinander und können einander kaum helfen. Immer mehr Töchter und Schwiegertöchter sind berufstätig, das heißt, sie haben kaum Zeit für die Hilfe. Die staatliche Pflegeversicherung reicht schon jetzt nicht aus, um alle nötigen Leistungen zu bezahlen, und die Verbesserungsvorschläge der Politiker sind die reinste Flickschusterei. Das Einzige, was noch hilft, ist private Vorsorge für den Pflegefall. Ohne die wird es in Zukunft überhaupt nicht gehen.
Fundstelle:
http://www.wiwo.de/finanzen/bei-aller-liebe-264125/
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