Patientenverfügung – Verbindlichkeit gestärkt

Rechtsbeziehung Patient – Therapeut / Krankenhaus / Pflegeeinrichtung, Patientenselbstbestimmung, Heilkunde (z.B. Sterbehilfe usw.), Patienten-Datenschutz (Schweigepflicht), Krankendokumentation, Haftung (z.B. bei Pflichtwidrigkeiten), Betreuungs- und Unterbringungsrecht

Moderator: WernerSchell

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Gast

Patientenverfügung – Verbindlichkeit gestärkt

Beitrag von Gast » 30.08.2003, 11:14

Patientenverfügung – Verbindlichkeit gestärkt

Patientenwille, Prognose, medizinische Indikation, Behandlungsziel usw. entziehen sich einem juristischen Eindeutigkeits-Schema, welches nur "ja" oder "nein" kennt. Vielmehr kommen die genannten Kategorien in der Praxis in graduellen Abstufungen vor, zu deren Ermittlung und Festlegung ein kommunikativer Prozesses notwendig ist. Das Arzt-Patientenverhältnis ist eben nicht nur ein reines Rechtsgeschäft.

Zur Ermittlung des Patientenwillens haben Priv.-Doz. Dr. med. G. D. Borasio u.a. jetzt das folgende Vier-Stufen-Modell vorgestellt (in: Dtsch Arztebl 2003; 100: A 2062-2065 [Heft 31-32]; Borasio ist Sprecher des Arbeitskreises Patientenverfügungen am Klinikum der Universität München-Großhadern):

1.) Tatsächlicher, aktuell erklärter Wille des aufgeklärten und einwilligungsfähigen Patienten (immer vorrangig); falls nicht möglich:

2.) Vorausverfügter, durch schriftliche oder mündliche Patientenverfügung erklärter Wille (fortwirkend und verbindlich, sofern sich die Verfügung eindeutig auf die aktuelle Situation bezieht);

3.) Individuell-mutmaßlicher Wille (aus früheren Äußerungen, Wertvorstellungen und so weiter zu ermitteln); falls auch dieses nicht möglich ist:

4.) Allgemein-mutmaßlicher Wille (anhand von sog. "allgemeinen Wertvorstellungen" zu ermitteln )

Nach ärztlichem Verständnis sei die Indikation für eine medizinische Maßnahme maßgeblich vom zu erreichenden Therapieziel abhängig, heißt es im Beitrag dazu. Zu jedem Zeitpunkt einer Erkrankung bestünden "in der Regel mehrere Therapieoptionen, über die sich ein Dialog zwischen Arzt und Patient entwickeln sollte mit dem Ziel, einen Konsens über den weiteren Behandlungsweg zu erzielen. ... Nicht anders ist aus ärztlicher Sicht die Situation eines bewusstlosen Patienten (mit oder ohne Patientenverfügung) zu bewerten. Eine Patientenverfügung ist dabei verbindlich, sofern sie so formuliert ist, dass sie sich eindeutig auf die aktuelle Situation des Patienten beziehen lässt." (Borasio u.a., Dtsch. Ärzteblatt vom 4.8.03, a.a.O.)

Ein nicht auf die aktuelle Situation bezogenes, eher pauschales Musterformular ist also von geringerem Wert, kann zumindest nicht in der Form verbindlich wie der erklärte Wille, welcher dem eines einwilligungsfähigen Patienten nahezu gleichwertig ist. Nur die beiden Stufen 1 und 2 des erklärten Willens müssen und können ohne weitere Ermittlungen und Interpretationen unmittelbar befolgt werden. Ein Zuwiderhandeln ist rechtswidrig.

Der allgemein-mutmaßliche Wille (Stufe 4) birgt besondere Probleme. Insbesondere über die Sterbehilfefrage lässt sich ja gerade kein gesellschaftlicher Konsens herstellen. Unstrittig ist lediglich, dass es hier allenfalls um eine "Darfbestimmung" gehen kann, während die Verbindlichkeit des erklärten Patientenwillens eine "Mussbestimmung" darstellt. In einem Brief in der FAZ vom 27. Juni schlägt Dr. med. Doris Saynisch als "objektivierbaren Bezugspunkt" folgendes vor: "Man sollte sich entschließen können, wenigstens den irreversiblen Bewusstseinsverlust und schwerste Dauerschädigungen als Indiz anzuerkennen, um lebenserhaltende abbrechen zu dürfen."
Da eben dies so umstritten ist, wird in der Praxis teilweise der individuell-mutmaßliche Wille (Stufe 3) als Hilfskonstrukt dafür bemüht.

Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER vom 30.8.2003

Gast

Re: Patientenverfügung – Verbindlichkeit gestärkt

Beitrag von Gast » 30.08.2003, 11:35

Es war in der Vergangenheit so, dass eine Patientenverfügung hin und her geprüft und fast nach Belieben verworfen werden konnte. Jetzt ist aber die Rechtssituation entscheidend anders: Die Patientenverfügung gilt zwingend. Nur wenn Umstände vorliegen, die klar verdeutlichen, dass der Patientenwille nicht mehr gelten soll, ist eine Prüfung möglich.

Näheres zur Entscheidung des BGH im Rechtsalmanach, Nr. 13, dieser Homepage:
Behandlungsabbruch im Rahmen einer "Rechtlichen Betreuung" genehmigungspflichtig! Nachfolgend
---> der Vorlagebeschluss des OLG Schleswig vom 12.12.2002 PDF und
---> der Beschluss des BGH vom 17.3.2003 PDF

Gast

Re: Patientenverfügung – Verbindlichkeit gestärkt

Beitrag von Gast » 07.09.2003, 03:58

Ärztliche Sicht und Patientenrechte - oft, aber nicht immer identisch

Lübeck - Die ihrer Auffassung nach überzogenen Richterschelte und unsachgemäße Bewertung im so genannten "Lübecker Fall" hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe von Ärzten, Juristen und Medizinethikern aus der Hansestadt in einer Presseerklärung zurückgewiesen. Dieser Fall hatte, wie mehrfach berichtet, schließlich zum Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 zu "Patientenverfügungen" und "Entscheidungen am Lebensende" geführt.

Dr. Meinolfus Straetling u.a. von der Arbeitsgruppe der Klinik für Anaesthesiologie der Universtität zu Lübeck verweisen darauf, dass sich gerade der BGH - und mit ihm das deutsche Medizin- und Betreuungsrecht - in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten "stets als differenziert entscheidender, verlässlicher Partner bei der Umsetzung zutiefst medizinethischer Anliegen" erwiesen habe. Dies gelte tatsächlich auch für seine Entscheidung im sogenannten Lübecker Fall. So wäre durch die Bundesrichter klar gestellt worden, dass die Vorausverfügung eines (inzwischen) nicht mehr selbst entscheidungsfähigen Patienten als erklärter Wille verbindlich sei: "... Insbesondere dürfen der behandelnde Arzt oder sonstige Beteiligte dem Betroffenen nicht ohne wirklich stichhaltigen Beleg unterstellen, dass dieser zwischenzeitlich seine Meinung geändert habe. Die von dem Patienten im Vorfeld einer schweren Erkrankung verfügte Begrenzung medizinischer Behandlungsmaßnahmen ist somit also zu befolgen. In diesen Fällen darf dann auch kein gesetzlicher Stellvertreter (`Betreuer´) für den Patienten bestellt werden, denn der Patient hat in dieser Frage per Vorausverfügung selbst entschieden." Eine zusätzliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigungspflichtigkeit einer Behandlungsbegrenzung komme - so haben die Lübecker Kommentatoren das ihrer Meinung nach "eindeutige Votum des BGH" verstanden, prinzipiell nur in Konfliktfällen in Betracht: "insbesondere also, wenn ein Stellvertreter im Namen des Patienten eine Behandlungsbegrenzung fordert, der behandelnde Arzt aber dieser Forderung nicht nachkommen will. Die von den Kritikern der BGH-Entscheidung aufgestellte Behauptung, faktisch jede medizinische Behandlungsbegrenzung bedürfe nunmehr einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung, sei klar unzutreffend. Dabei stünden jedoch im Zusammenhang mit "Patientenverfügungen" und "Entscheidungen am Lebensende" i.A. überhaupt nur noch solche Behandlungsmaßnahmen zur Diskussion, "deren Aussichten auf einen Behandlungserfolg objektiv als gering bis extrem gering einzuschätzen sind." (Presseerklärung Straetling u.a., Aug. 03)

Die Bundeszentralstelle für Patientenverfügungen in Berlin hält es demgegenüber für eines der verbreitetsten und schwerwiegendsten Missverständnisse, dass sich eine Patientenverfügung nur auf aussichtslose oder infauste Situationen zu beziehen habe. Würde man die Wirksamkeit einer Patientenverfügung an diese Voraussetzung binden, hätte dies mehr mit einem "allgemeinem mutmaßlichen Willen" und ärztlich feststellbaren medizinischen Kriterien, aber nur wenig mit einem Selbstbestimmungsinstrument zu tun. Aus Patientenrechtssicht müsse darauf bestanden werden, dass z. B. von einer Pflegeheimbewohnerin oder einem Hochbetagten auch eine bestimmte Maßnahme wie Reanimation oder Überführung auf eine Intensivstation absolut abgelehnt werden kann. Beschränke man - wie leider üblich - die Patientenverfügung i. A. auf Sterbehilfe im engeren oder weiteren Sinne, würde man damit anerkannte Patientenrechte zur medizinischen Behandlung in häufig vorkommenden Entscheidungssituationen aushebeln, bzw. von der Möglichkeit einer gesicherten Vorausverfügung ausnehmen.

Quelle: PATIENTENVERFUEGUNG NEWSLETTER vom 7.9.2003

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